Die Graphen der Exponentialfunktionen der Form
x
®
ax
sehen für a > 1
alle recht ähnlich aus. Da a0 = 1
ist, gehen sie alle durch den Punkt mit den Koordinaten (0,1).
Sie unterscheiden sich nur durch die Intensität ihres Wachstumsverhaltens:
Je größer a ist,
umso enger schmiegen sie sich für negative x-Werte
an die x-Achse,
und umso schneller steigen sie für positive x an.
Hier sind zwei dieser Graphen
(für a = 2 in rot
und a = 5 in blau)
dargestellt:
Wir haben im obigen Diagramm auch den Graphen der Funktion
x
® x + 1 als
grüne Gerade eingezeichnet. Es ist deutlich sichtbar, dass diese Gerade
mit den Graphen der beiden Exponentialfunktionen je zwei Schnittpunkte hat.
Die Skizze sagt uns:
Es gibt einen Bereich von (positiven) x-Werten,
für die 2xkleiner als 1 + x
ist, und
es gibt einen Bereich von (negativen) x-Werten,
für die 5xkleiner als 1 + x
ist.
Nun stellen wir uns vor, a
langsam von 2 auf 5 zu erhöhen:
Der Graph von ax
wird im positiven x-Bereich umso
schneller ansteigen, je größer a wird,
und sein rechter Schnittpunkt mit der grünen Geraden
wird nach links wandern. Bei irgendeinem Wert von a
wird er mit dem linken Schnittpunkt, der fix bei (0,1) sitzt,
zusammenfallen, und die grüne Gerade wird eine Tangente an den Graphen von
ax
werden. Den Wert von a, bei dem
das geschieht, nennen wir e.
Wir kommen zum Schluss, dass es eine Basis e
gibt, für die das Diagramm so aussieht:
Da der Graph von
ex
für allex ¹ 0
oberhalb der grünen Geraden liegt, gilt:
ex
³
1 + x
für alle x Î R .
(1)
Weiters dürfen wir erwarten, dass es nur einen derartigen
a-Wert gibt, denn wenn
a weiter wächst,
wird sich der Graph im negativen x-Bereich
"absenken", und es wird wieder zwei Schnittpunkte mit der grünen
Geraden geben, so wie es im ersten Diagramm für
a = 5 der Fall ist.
Im Bereich a < 1
braucht man nach anderen Zahlen, die (1) erfüllen, gar nicht zu suchen, denn wenn
x = 1 und
-x = 1/2 in
(1) eingesetzt wird, so folgt:
2 £ e £ 4.
Obwohl die bisherige Argumentation von einem strengen mathematischen Gesichtspunkt aus
betrachtet ein bisschen zu schlampig ist, geben wir uns mit ihr zufrieden. Auch ein genauerer
Beweis liefert dasselbe Resultat: Unter allen positiven Zahlen gibt es genau eine,
genannt e, die (1) erfüllt.
Um sie zu berechnen gehen, gehen wir folgendermaßen vor:
Wir wählen ein positives u und betrachten
jene Basis a, für die
au
=
1 + u
oder, nach a aufgelöst,
a
=
(1 + u)1/u
ist. Es ist genau jene Basis, für die der Graph von
ax
die grüne Gerade in einem Punkt
mit der (positiven) x-Koordinate
u schneidet.
Wenn wir nun u immer kleiner machen,
wird a immer näher an e
heranrücken. Darin besteht der ganze Trick!
Eine Möglichkeit, immer kleinereu betrachten,
besteht darin, der Reihe nach u = 1/n
für alle natürlichen Zahlen (n = 1, 2, 3...)
zu setzen. Wird also n immer größer, so
wird die Zahl
(1 + 1/n)n
beliebig nahe an e heranrücken.
Für n = 10 ergibt sich 2.5937424601,
für n = 100 ergibt sich 2.7048138294...
und für n = 10000,
erhalten wir 2.7181459268..., was schon sehr nahe bei e
(dessen Dezimalentwicklung mit 2.7182818284... beginnt)
liegt.
Dieses Verfahren kann dazu benutzt werden, den numerischen Wert von e
beliebig genau zu berechnen. Mathematisch ausgedrückt, wird e
hier als "Grenzwert" einer Folge von Zahlen dargestellt.
Wir werden derartige Dinge im Kapitel über Grenzprozesse (e als Grenzwert)
genauer besprechen. In vielen Lehrbüchern wird e auf diese Weise
eingeführt: als
Grenzwert der Zahlenfolge (1 + 1/n)n.
Neben dem hier beschriebenen gibt es andere - bessere -
Verfahren, um e (und damit zusammenhängende
Größen wie
ex
für ein gegebenes x) numerisch zu berechnen.
Wir werden sie in den Kapiteln über Grenzprozesse (e als Reihe)
und Potenzreihen (in Vorbereitung)
besprechen.
Falls Ihnen die hier vorgeführte Argumentation nicht zusagt, sehen Sie sich die im Anhang 1 weiter unten
beschriebene alternative Version, die einen weniger starken Bezug zu den obigen Graphen hat, an!
3. Verhalten von ex
für kleine x:
Das Verhalten der Funktion x
®
ax
wird für kleinex
(d.h. für |x| << 1)
durch das Verhalten des Graphen nahe jener Stelle, wo er die
y-Achse schneidet,
d.h. in der Nähe des Punktes (0,1), dargestellt
(siehe das zweite der obigen Diagramme).
Da der Graph tangential zur grünen
Gerade ist, unterscheiden sich die beiden Funktionen dort nur wenig.
Daher lässt sich
ex
in diesem Bereich
durch 1 + x
annähern (approximieren):
ex
» 1 + x
für |x| << 1.
Für andere Basen ist das nicht der Fall, da der Graph von
ax
für
a ¹ e
im Punkt (0,1) nicht tangential zum Graphen von 1 + x,
sondern zum Graphen einer anderen linearen Funktion
1 + cx
(mit c ¹ 1)
ist. Ganz allgemein gilt für kleine x
die Näherungsformel
ax
» 1 + cx,
wobei c von
a abhängt und nur
für a = e den Wert 1 hat.
Darin liegt letzten Endes die Bedeutung der Zahl
e.
Anhang 1: Alternative Form der Berechnung von e:
Die obige Argumentation zur Berechnung von e
erfordert kaum eine Rechnung, enthält aber einen starken Bezug zu den Diagrammen und dem Verhalten der
Graphen. Als Alternative stellen wir hier einen Beweis vor, der diesen Bezug vermeidet, dafür aber rechnerisch ein bisschen aufwendiger
ist:
Wir nehmen als gegeben an, dass eine Zahl e,
die (1) erfüllt, existiert und spalten diese Ungleichung in zwei Aussagen auf:
für positive und für negative x.
Im zweiten Fall setzen wir
x = -y.
Damit sagt (1) dasselbe aus wie
ex
³
1 + x
für alle x > 0
e-y
³
1 - y
für alle y > 0 .
Das können wir zu
(1 + x)1/x
£
e
£
(1 - y)-1/y
umformen. Da diese Aussage für alle positiven x und
y gilt, können wir
x = 1/n
und
y = 1/(n + 1)
setzen, wobei n eine natürliche Zahl ist.
Nach einer kleinen Umformung und der Verwendung der Abkürzung
an
=
(1 + 1/n)n
gelangen wir zur Aussage
an
£
e
£
(1 + 1/n)
an ,
die für alle natürlichen Zahlen n gilt.
Wenn n schrittweise immer größer gemacht wird,
so wird der Faktor 1 + 1/n
auf der rechten Seite immer näher bei 1 liegen. Die linke und die rechte Seite werden
einander immer ähnlicher, und damit haben wir
e "eingezwickt":
Mit wachsendem n rückt
an
beliebig nahe an e heran.
Anhang 2: Berechnung von ex:
Zuletzt erwähnen wir, dass ex
der Grenzwert der Folge
⎛ ⎜
⎝
1 +
xn
⎞ ⎟
⎠
n
ist: Werden
- bei gegebenem x
- immer größere natürliche Zahlen
n eingesetzt, so rückt
diese Zahl beliebig nahe an ex
heran. Die Berechnung von e
ergibt sich als Spezialfall für
x = 1.
Beweisidee: Wird im obigen Ausdruck
n = xm
gesetzt, so tritt der mittlerweile vertraute Term
(1+ 1/m)m,
erhoben zur Potenz x, auf.
Für x ¹ 0
ist es gleichgültig, ob
m oder
n über jede Schranke wächst,
da die beiden bei festgehaltenem x zueinander proportional sind,
womit sich als Grenzwert ex
ergibt.